Gelegentlich möchte ich aus meiner üblichen Tagebuch-Schreibe ausbrechen, um eine neue Erfahrung mit mir zu machen oder um eine Frage auf andere Weise zu lösen. Dann nutze ich mein Wissen aus den Bereichen Kommunikationsdesign und Buchkunst für Experimente.
Wie ein solches Experiment aussehen kann, zeigt das folgende Beispiel aus der Literatur, das mich sehr inspiriert hat:
Ausgerüstet mit Proviant, Musik, einer Kamera und zwei Reiseschreibmaschinen, beginnt ein Schriftsteller-Paar eines Frühsommertages im Jahr 1982 eine kuriose Reise: mit dem VW-Bus fahren Carol Dunlop und Julio Cortázar auf der Autobahn Paris – Marseille. Das Ziel der Reise: alle dreiundsechzig Rastplätze auf dieser Strecke anfahren und auf jedem Zweiten übernachten. Weiter nichts. Für gewöhnlich ist die Fahrt auf der Autobahn zu Beginn einer Reise kaum erwähnenswert. Hier wird sie anhand einer äußerst strengen Regel zum Mittelpunkt dieser skurilen Aktion.
»Mit dem Eifer von Forschungsreisenden dokumentieren sie ihre Erlebnisse in einem Logbuch.« Das Werk wird schließlich publiziert mit dem Titel: Die Autonauten auf der Kosmobahn.
Wie wird ausgerechnet eine beengende Regel zum Motor der Kreativität?
Im Gegensatz zu einem weit verbreiteten Vorurteil ist „unkontrollierte Freiheit“ keine Vorraussetzung für kreatives Arbeiten und das Erzeugen neuer Ideen.
Der Regiseur und Filmemacher Robert McKee nimmt in seinem Buch „Story“ im Kapitel „Kreative Beschränkung“ einen Dichter zum Beispiel, der ein bestimmtes Reimschema umsetzen möchte:
„So in die Enge getrieben, kann der Kampf , die sechste Zeile mit der vierten und der zweiten zu reimen, ihn dazu anregen, sich ein Wort auszudenken, das keinerlei Beziehung zu seinem Gedicht hat – es reimt sich einfach zufällig—, aber dieses willkürliche Wort setzt einen Ausdruck frei, der wiederum ein Bild aufruft, ein Bild, das nun auch in den ersten fünf Zeilen klingt, etwas ganz Neues an Sinn und Gefühl auslöst und dem Gedicht eine Wendung zu reicherer Bedeutung und tieferer Emotion gibt. Das Prinzip kreativer Beschränkung verlangt nach Freiheit innerhalb eines Kreises von Hindernissen.“
Am Beispiel des Filmsettings geht McKee nochmals auf die Wirkung der kreativen Beschränkung ein:
„Je größer die Welt, desto dünner das Wissen des Autors, desto geringer daher seine schöpferischen Auswahlmöglichkeiten und desto klischeehafter die Story. Je kleiner die Welt, desto vollständiger das Wissen des Autors und desto größer daher seine schöpferischen Auswahlmöglichkeiten.“
Somit erlaubt die zuvor bestimmte Regel unter der künstlerisches Schaffen stattfindet, in gewisser Weise einen neuen Aggregatzustand des Arbeitens einzunehmen, der die eigenen Gewohnheiten in einem neuen Spielfeld austestet.
„Meine Freiheit wird umso größer und umfassender sein, je enger ich mein Aktionsfeld abstecke und je mehr Hindernisse ich ringsum aufrichte. Wer mich eines Widerstands beraubt, beraubt mich einer Kraft. Je mehr Zwang man sich auferlegt, umso mehr befreit man sich von den Ketten, die den Geist fesseln.“ Igor Stravinky
„Writing free verse is like playing tennis with the net down.“
Robert Frost
Um im kreativen Arbeitsmodus aus gewohntem Denken und somit Handeln auszubre- chen, ist das Anwenden einer Regel hilfreich, die einen neuen Denk-Modus erzeugt. Sie boykotiert die eigene Routine und macht damit unbekanntes Gebiet sichtbar, welches man ohne veränderte Gangart nicht betreten würde.
Ein Beispiel für eines meiner Tagebuch-Experimente ist ein Projekt, das ich vor einigen Jahren während meines Auslandssemesters in Long Beach, Kalifornien gemacht habe. Es ging folgendermaßen: 7 Tage lang habe ich in jeder Stunde meines Tages einen Gedanken notiert. Ein Timer hat mich einmal in der Stunde zu einer willkürlichen Zeit aus einer Handlung gerissen, ich habe inne gehalten und genau das notiert, was mir in diesem Moment durch den Kopf ging. Um nicht vor Schlafmangel umzukommen, habe ich die Schlafstunden als schwarze Balken gesetzt.
Herausgekommen ist eine geballte Menge Leben in Sätze, die ich nie so geschrieben hätte und die mir heute eine besondere Form der Erinnerung sind.
Die Kategorie „neu-denken“ steht in diesem Tagebuch Blog für die Möglichkeit das eigene Schreiben auszutesten und experimentell an das Aufzeichnen zu gehen, um aus Routinen auszubrechen.
Wenn man nicht gerade sieben Tage aufwenden möchte, um etwas anderes auszuprobieren, sondern lieber nur ein paar Minuten, dann finden sich bei der Serie Tagebuch-Themen eine Anzahl an Nano-Denkräumen, die man für sich nutzen kann.
Liebe Eva, dieser Blog Artikel gefällt mir ganz besonders! Dein Experiment 7 tagelang jede Stunde einen Gedanken zu notieren – finde ich sehr interessant. Mit schwarzen Balken kann ich es mir sehr gut bildlich vorstellen.
Es erinnert mich ein wenig an mein eigens Experiment. Da habe ich ein Jahrlang – 366 Tage, ein Foto mit Automatikkamera um 19 Uhr in Richtung Norden gemacht. Um später die Fotos zuordnen zu können, habe ich mir Tagebuchnotizen dazu gemacht. Aus diesem kleinen Projekt habe ich ein Buch für mich gemacht.
Liebe Grüße, Natalja
Liebe Natalja,
vielen Dank, dass du dich hier etwas umgesehen hast. Natürlich freut es mich, dass dir dieser Artikel ins Auge sprang, da er verkörpert, was mich am Schreiben in Notizbüchern fasziniert. Wie können wir etwas Flüchtiges festhalten und wie fordern wir dieses Schreiben/Zeichnen/Aufnehmen heraus.
Dein Projekt werde ich natürlich besuchen. Es ist spannend, dass die orgnisatorischen Tagebucheinträge, nun etwas ganz Eigenes transportieren.
Liebe Grüße,
Eva